Sonntag, 13. Januar 2008

Wir sind vom Leben gerupft

Haller steht mit einem Tablett vor dem Tisch, auf dem Helens Hände liegen. Er schiebt das Tablett an den Händen vorbei und verteilt, behutsam und fast ohne zu zittern, das Hergebrachte. Helen bekommt eine Tasse Kaffee, einen Kaffeelöffel, zwei Becherchen Sahne und eine Tüte Zucker, er selber nur eine Tasse Kaffee. Das Tabett ist leer. Haller weiss nicht recht, wohin damit, stellt es schliesslich, an ein Tischbein gelehnt, zu Boden. Er richtet sich auf und holt Luft. Helen schaut mit schrägem Kopf einäugig zu ihm empor.

Haller ist wie von einem kleinen Donner gerührt. Wir sind hässlch, sagt er. Zwei gerupfte Hühner. Wir sind vom Leben gerupft. Er setzt sich. Wir sollten uns schämen, Helen, weiss Gott, und wir tun es auch. Wir möchten gern schön sein. Einen grösseren Wunsch haben wir nicht.

Helens Hände sind in Bewegung. Sie öffen die Becherchen und die Tüte und treffen mit Zucker und Sahne den richtigen Ort.

Hallers Hände kommen leicht ins Zittern. Eine kleine Anspannung genügt. Sie lassen ihn oft nicht einmal mehr seinen Namen schreiben. Wenn er sie zu beherrschen sucht, widersetzen sie sich. Hallers Mutter würde sagen, "sie machen Tänze". Dann und wann schlagen sie aus wie Pferde, stossen dabei ein Glas um, oder, wie kürzlich, drei Gläser aufs Mal. Haller hat beruhigende Tabletten, die er notfalls auch einnimmt. Was die Tabletten nicht beseitigen, ist ein fremdes Gefühl, das unvermutet auftreten kann, wenn er eine Gabel ergreift, einen Wassehahn dreht, ein Zeitungsblatt wendet, das auftritt und wieder vergeht oder nicht vergeht, als hätte er mehr als zehn Finger, mindestens zwölf, und die kämen sich in die Quere. Haller gibt zu, dass er von seinen Händen enttäuscht ist.

Aus: Jürg Schubiger, Haller und Helen (Roman), Insbruck 2002, S. 28f

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