Dienstag, 29. Januar 2008

Stumm

«Auf dem Gang läuft wieder eine Frau, die namenlose mit den Plastiktüten, diesmal in umgekehrter Richtung. Solange es irgendwie vorwärts geht, denkt Haller, haben die Alten es eilig. Sie könnten etwas verpassen, das Abendessen, die Fusspflege, den Zahnarzttermin. Tatsächlich erreiht man vieles nur noch mit knapper Not und wie ausnahmsweise. Man wundert sich, dass es einem gelingt, den Telefonhörer abzuheben, bevor der Telefonierende wieder aufgehängt hat. Man wundert sich, denkt Haller und dann sagt er es auch: Man wundert sich, dass es überhaupt jemandem gelingt, eine Telefonnummer richtig zu wählen, einen Knoten im Schuhband zu lösen, eine Batterie auszuwechseln. Man weiss im Voraus, man spürt im Voraus, sagt er und spürt es auch schon, wie es sein wird, wenn die Zahnbürste sich eines Morgens im Mund nicht mehr auskennt. Sie fährt hinein, als wär's der Mund von gestern, vorgestern, doch es ist ein anderer, ein engerer, fast der eines Kindes mit unzähligen kleinen Zähnen. Dieser engere Mund ist stumm.»

Aus: Schubiger, Jürg, Haller und Helen (Roman), Insbruck 2002, S: 36f

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