Dienstag, 29. Januar 2008

Stumm

«Auf dem Gang läuft wieder eine Frau, die namenlose mit den Plastiktüten, diesmal in umgekehrter Richtung. Solange es irgendwie vorwärts geht, denkt Haller, haben die Alten es eilig. Sie könnten etwas verpassen, das Abendessen, die Fusspflege, den Zahnarzttermin. Tatsächlich erreiht man vieles nur noch mit knapper Not und wie ausnahmsweise. Man wundert sich, dass es einem gelingt, den Telefonhörer abzuheben, bevor der Telefonierende wieder aufgehängt hat. Man wundert sich, denkt Haller und dann sagt er es auch: Man wundert sich, dass es überhaupt jemandem gelingt, eine Telefonnummer richtig zu wählen, einen Knoten im Schuhband zu lösen, eine Batterie auszuwechseln. Man weiss im Voraus, man spürt im Voraus, sagt er und spürt es auch schon, wie es sein wird, wenn die Zahnbürste sich eines Morgens im Mund nicht mehr auskennt. Sie fährt hinein, als wär's der Mund von gestern, vorgestern, doch es ist ein anderer, ein engerer, fast der eines Kindes mit unzähligen kleinen Zähnen. Dieser engere Mund ist stumm.»

Aus: Schubiger, Jürg, Haller und Helen (Roman), Insbruck 2002, S: 36f

Sonntag, 27. Januar 2008

Ertragen

«Alt werden heisst, sich selbst ertragen lernen.»
Hans Kudszus

Mittwoch, 23. Januar 2008

Sehen

«Alt werden heisst sehend werden.»
Marie von Ebner-Eschenbach

Dienstag, 22. Januar 2008

Tief und schön

«Weisst du, wie lange ich nicht mehr Auto fahre, Helen?, fragt er.

Sieben Jahre.

Richtig. Woher weisst du das?

Du fragst mich jeden Tag. Und jeden Tag sage ich: Sieben Jahre.

Bald sind es acht, präzisiert Haller. Er spürt das Vergehen der Zeit. Er braucht bloss darauf zu achten. Etwas rieselt aus ihm heraus und unter ihm weg. Die Schwäche, die zurückbleibt, ist tief und schön. Das Bild der Sanduhr: Oben ein Tal, unten ein Berg. Also, schliesst Haller, gibt es einen Ort, wo alles Zerrinnende hinrinnt.»

Jürg Schubiger, Haller und Helen (Roman), Insbruck 2002, S. 128

Mitgespielt

«Man hat so lange gerlernt und ist noch immer kein Virtuose. Zeitweise war man der erste Geiger des Orchesters, dann der zweite, dann irgendeiner, der nicht sicher ist, ob er noch mitspielt.»
Jürg Schubiger, Haller und Helen (Roman), Insbruck 2002, S. 122

Der Gedanke daran ...

«Nichts macht schneller alt als der immer vorschwebende Gedanke, dass man älter wird.»
Lichtenberg, Nachtrag zu den Nachrichten und Bemerkungen über sich selbst

Montag, 21. Januar 2008

Gut untergebracht

«Scheissdreck, ruft Helen laut. Das Wort füllt gleich die ganze Cafeteria aus. Haller holt erschrocken Luft, um zu lachen. Er hat keine Ahnung, was in ihrem Kopf passiert. Helen hat Ideen, die sie stechen wie Hexensschüsse. Haller fragt sich, ob er etwas unternehmen soll. Wenn er sie anfasst, wird die ruhig, wenn er sie nicht anfasst, vermutlich auch. Er beugt sich über den Tisch vor: Ich will dir mal was sagen, Helen Roux. Nach dieser Ankündigung gerät er in eine Lücke. Dann fährt er fort: Wir können uns nicht beklagen. Wir haben alles was wir brauchen, Helen. Und ausserdem ein hochwertiges personal. Wir haben Glück gehabt. Wir haben es immer noch. Wir sind unansehnlich, das schon, und ungeschickt und ungeduldig, aber gut untergebracht.»

Aus: Schubiger, Jürg, Haller und Helen (Roman), Insbruck 2002, S. 49

Samstag, 19. Januar 2008

Das Alter gibt nichts zurück

«Oft heisst es, an Demenz erkrankte Menschen seien wie kleine Kinder - kaum ein Text zum Thema, der auf diese Metapher verzichtet; und das ist ärgerlich. Denn man kann sich unmöglich zu einem Kind zurückentwickeln, da es zum Wesen des Kindes gehört, dass es sich nach vorn entwickelt. Kinder erwerben Fähigkeiten, Demenzkranke verlieren Fähigkeiten. Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit ist, das Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und die grösste Sorge, die es einem machen kann, ist die, dass es zu lange dauert.»
aus Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, NZZ am Sonntag, 25.11.2007, S. 95

Sonntag, 13. Januar 2008

Wir sind vom Leben gerupft

Haller steht mit einem Tablett vor dem Tisch, auf dem Helens Hände liegen. Er schiebt das Tablett an den Händen vorbei und verteilt, behutsam und fast ohne zu zittern, das Hergebrachte. Helen bekommt eine Tasse Kaffee, einen Kaffeelöffel, zwei Becherchen Sahne und eine Tüte Zucker, er selber nur eine Tasse Kaffee. Das Tabett ist leer. Haller weiss nicht recht, wohin damit, stellt es schliesslich, an ein Tischbein gelehnt, zu Boden. Er richtet sich auf und holt Luft. Helen schaut mit schrägem Kopf einäugig zu ihm empor.

Haller ist wie von einem kleinen Donner gerührt. Wir sind hässlch, sagt er. Zwei gerupfte Hühner. Wir sind vom Leben gerupft. Er setzt sich. Wir sollten uns schämen, Helen, weiss Gott, und wir tun es auch. Wir möchten gern schön sein. Einen grösseren Wunsch haben wir nicht.

Helens Hände sind in Bewegung. Sie öffen die Becherchen und die Tüte und treffen mit Zucker und Sahne den richtigen Ort.

Hallers Hände kommen leicht ins Zittern. Eine kleine Anspannung genügt. Sie lassen ihn oft nicht einmal mehr seinen Namen schreiben. Wenn er sie zu beherrschen sucht, widersetzen sie sich. Hallers Mutter würde sagen, "sie machen Tänze". Dann und wann schlagen sie aus wie Pferde, stossen dabei ein Glas um, oder, wie kürzlich, drei Gläser aufs Mal. Haller hat beruhigende Tabletten, die er notfalls auch einnimmt. Was die Tabletten nicht beseitigen, ist ein fremdes Gefühl, das unvermutet auftreten kann, wenn er eine Gabel ergreift, einen Wassehahn dreht, ein Zeitungsblatt wendet, das auftritt und wieder vergeht oder nicht vergeht, als hätte er mehr als zehn Finger, mindestens zwölf, und die kämen sich in die Quere. Haller gibt zu, dass er von seinen Händen enttäuscht ist.

Aus: Jürg Schubiger, Haller und Helen (Roman), Insbruck 2002, S. 28f

Freitag, 4. Januar 2008

Demenz:
«Die Person sickert Tropfen für Tropfen
aus der Person heraus.»

«Und ich habe auch gelernt, dass man für das Leben eines von Demenz betroffenen Menschen neue Massstäbe braucht. Wenn mein Vater sich bedanken möchte, soll er sich bedanken, auch ohne nachvollziebaren Anlass; und wenn er sich darüber beklagen will, dass ihn alle Welt im Stich lässt, soll er sich beklagen, egal, ob dieser Eindruck in der Welt der Fakten standhalten kann oder nicht. Für Ihn als Betroffenen gibt es keine Welt ausserhalb der Demenz. Und als Angehöriger kann man nur versuchen, die dort herrschende Verstörung emotional aufzufangen, die Bitterkeit des Ganzen ein wenig zu lindern, indem man die durcheinandergeratene Wirklichkeit des Kranken gelten lässt. Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann. muss ich zu ihm. Dort drügen, jenseits unserer auf Sachlichkeit ausgelegten Gesellschaft ist er ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Massstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brilliant.»
Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, NZZ am Sonntag, 25.11.2007

«Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.» - Ein Satz von Arno Geigers Vater.

Der Artikel kann im NZZ-Archiv gesucht und bezogen werden (kostenpflichtig).